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                Beginnen wir mit dem größten Kompliment, dass man einer Grand Dame wie der Serenissima machen kann: dass man sie als liebevoller Betrach- ter selbst bei schlechtestem Wetter wunderschön findet. Eiskalt kann es in Venedig im Winter sein, regnerisch und nebelig. Dafür ist das Licht so weich wie Samt. Schon wenige Sonnenstrahlen verwandeln selbst die schäbigsten Paläste in pastellfarbene Prachtbauten, kleine Brücken und enge Gassen, vor der Corona-Krise von Touristen übervölkert, sind jetzt fast menschenleer und offenbaren den Zauber versteckter Ecken. Natür- lich sind der Lock Down und dessen Folgen an Venedig nicht spurlos vo- rübergegangen, doch die Venezianer versuchen so gut wie möglich mit der Situation zurecht zu kommen. Herbst und Winter waren schon immer eine Zeit, in der leise Melancholie über den Kanälen liegt und nur noch wenige Gondeln fast lautlos durch die Wasserstraßen ziehen. Und alle hoffen, dass es bald wieder so sein wird wie immer in dieser Jahreszeit: Die Piazza San Marco wird wieder zu dem, was sie einmal war: eine gran- diose Kulisse für das städtische Leben, wo der Tag mit der Morgenlektüre und einem Espresso beginnt und spätnachts bei einem Glas Wein und bei viel chiacchierare, dem gemütlichen Plausch, beendet wird. Am be- sten lässt man sich von hier aus einfach treiben: Über kleine und große Brücken, durch unzählige, verwinkelte Gassen, vorbei an noblen Bou- tiquen und originellen Papierwaren- und Maskengeschäften, über ro- mantische Plätze und hinein in winzige Trattorien und Cafe-Bars , wo sich jetzt die Einheimischen treffen, die in turbulenten Tourismuszeiten vor amerikanisch-russisch-asiatischem Sprachgewirr geflohen sind.
In der winterlichen Stille sind sie wieder gut zu hören, die Klänge von Vivaldi oder Mozart, die wie ein Sirenengesang hinein locken in Kon- zerte in versteckt gelegenen Kirchen. Aus dem Vaporetto, dem schwim- menden Bus von Venedig, schaut man auf die schönsten Paläste am Canal Grande und bekommt dabei mühelos einen Sitzplatz, was zur Hauptsaison einem Lottogewinn gleichkommt. Typisch venezianische Viertel wie Dorsoduro rund um den Campo Santa Margherita offenba- ren jetzt wieder ihren fast ländlichen Charme, rund um die Rialtobrü- cke ist der lokale Markt wieder fest in der Hand von fröhlich feilschen- den italienischen Händlern und Hausfrauen. Wer ein Boot hinüber auf die Glasbläserinsel Murano oder auf die kleinen Schwesterinseln Bura- no und Torcello nimmt, erlebt eine Zeitreise in ein Venedig, wie es vor vielen Jahrzehnten einmal gewesen sein mag.
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FINEST-ONTOUR.DE































































































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